Poesie und Rationalität

Die Architektin Inken Baller erhält die Ehrendoktorwürde der KIT-Fakultät für Architektur
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Am 30. Oktober 2024 wurde die Architektin und Hochschullehrerin Inken Baller bei einem Festakt mit der Ehrendoktorwürde der KIT-Fakultät für Architektur ausgezeichnet.
Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier eine gekürzte Fassung der Laudatio von Prof. Dr. Riklef Rambow:

„Sehr geehrter Vizepräsident Herr Professor Wanner, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, liebe Gäste, liebe Frau Professorin Inken Baller,

wir sind heute hier zusammengekommen, um die Ehrendoktorwürde dieser Fakultät an eine Architektin und Hochschullehrerin zu verleihen, von der wir mehr als von jeder anderen glauben, dass sie diese Ehrung aufgrund ihres beeindruckenden Lebenswerks verdient hat. Es geht aber nicht nur um eine rückblickende Ehrung, es geht auch darum, für unsere Fakultät ein Zeichen zu setzen, das in die Zukunft weist. Das Werk von Inken Baller ist von großer Aktualität. Es stellt Fragen, die heute so drängend sind, wie sie es 1967 waren, als sie das erste gemeinsame Büro mit Hinrich Baller gründete, und es gibt Antworten, die auch heute noch ungemein anregend, eigenständig und für uns in diesem Moment wertvoll sind.
Wir sind offensichtlich nicht die einzigen, die das so sehen. 2023 hat der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten BDA Hinrich Inken und Hinrich Baller den äußerst renommierten Großen BDA-Preis verliehen und bei dieser Gelegenheit die Bedeutung ihres gemeinsamen Werks bereits hervorgehoben und ins allgemeine Bewusstsein gehoben. Noch interessanter ist aber, dass es ein stetig zunehmendes Interesse seitens einer jüngeren Generation von Architektinnen und Architekten an ihrem Werk gibt. (…)

Die schönste Form der Wertschätzung ist aus meiner Sicht (…) die Wanderausstellung "Visiting Inken Baller and Hinrich Baller. Berlin 1966–89" und das begleitende (mehr als fünfhundert Seiten umfassende) Buch. Beides (…) stellt meines Erachtens eine wunderbare und kongeniale Auseinandersetzung mit dem Werk dar, weil es dessen Offenheit, Multiperspektivität und Dialogbereitschaft konzeptuell spiegelt. (…)
 
Die Lektüre des Buches lege ich jedem ans Herz, der sich intensiver mit dem Werk der Ballers auseinandersetzen möchte.
Wer dies tut, dem wird schnell klar, dass das Werk erheblich vielseitiger ist als man zunächst denkt, und dass es von Anfang an einer klaren Position entspringt. Die Bürogründung erfolgt, wie schon erwähnt, 1967, also ein Jahr vor Beginn der Studierendenproteste. Der historische Kontext spielt, ebenso wie der Ort der Gründung, natürlich eine große Rolle, auf die ich hier allerdings nicht eingehen kann. Es gibt damals bundesweit, aber besonders auch in Berlin, eine große Unzufriedenheit mit den Entwicklungen in Architektur und Stadtplanung, mit den Flächensanierungen und der Neubaupraxis, die den Regeln der CIAM folgen, diese aber im Zusammenspiel von Politik und Investoreninteressen so weit trivialisiert haben, dass sich Widerstand an vielen Fronten regt. Das Bemerkenswerte bei Inken und Hinrich Baller ist, dass sie – im Unterschied zu vielen Kommiliton*innen – bei allem politischen Bewusstsein doch vor allem bauen wollen. Der aktive Widerstand gegen die vorherrschende Tristesse soll mit architektonischen Mitteln ausgedrückt werden. Es soll gezeigt werden, dass eine alternative Architektur, die zur Verbesserung der Verhältnisse beiträgt, möglich ist.

Von Anfang an spielte der Respekt vor dem Bestehenden dabei eine zentrale Rolle: "Abriss ist immer eine schlechte Idee". Angestrebt wurde eine Architektur, die sich mit dem Bestand verwebt, die aus dem Vorhandenen entwickelt wird. Dabei ist klar, dass es sich um vor allem um eine städtische Architektur handeln muss, die sich vor hoher Dichte nicht scheut, da sie nur so ihren ökologischen Fußabdruck minimieren kann. Jede Form der Monotonie soll vermieden werden. Die Stadt steht für Vielfalt, Offenheit und Gemeinschaft, und diese Werte sollen in der Architektur einen adäquaten Ausdruck finden. Auf der Ebene des Hauses wird höchste Durchlässigkeit angestrebt, das heißt, vielfältige Verbindungen zwischen Innen und Außen werden geschaffen, über Fenster, Terrassen, Balkone, Wintergärten, Freitreppen etc. Damit das gelingen kann, muss der Außenraum, seine Topografie und Gestaltung von Anfang an mitgedacht werden. Die Grundrisse sollen ebenfalls Repetition und Langeweile vermeiden, zugleich aber maximalen Nutzwert bieten. Sie sollen architektonisch spezifisch sein und einzigartige räumliche Situationen schaffen, zugleich aber beste Möglichkeiten für individuellen Ausdruck und Aneignung bieten. Sie sollen mehrdeutig oder polyvalent sein und auf eindeutige funktionale Zuschreibungen verzichten. Sie sollen dadurch nachhaltig sein, dass sie langlebig und offen für zukünftigen Wandel sind.
Angestrebt wird eine zutiefst humanistische Architektur, bei der die Wohnenden und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, die Interessen des Quartiers, der Stadt und der Umwelt aber von Anfang an mitbedacht werden.
Eine solche Zielformulierung für das bauliche Handeln würden wohl viele von uns unterschreiben. Sie wirkt nicht im Geringsten überholt oder unzeitgemäß. Gleichwohl darf man begründete Zweifel haben, ob bzw. in welchem Maße sie im Geschosswohnungsbau realisierbar ist, erst recht, wenn dieser bezahlbar bleiben oder den Richtlinien der sozialen Förderung entsprechen soll.

Umso mehr verblüfft es und macht große Freude, sich im Werkkatalog der Ballers, beginnend im Jahr 1970, durch die vielen Beispiele hindurchzuarbeiten, in denen den genannten Prinzipien gefolgt wird. Dabei wird man sehr schnell feststellen, dass sich die Entwürfe aus diesen Prinzipen entwickeln, die konkreten gestalterischen Ausformulierungen hingegen äußerst unterschiedlich sind. Man wird hier keinen "Stil" finden, sondern eine feine Interaktion zwischen den jeweiligen Kontextbedingungen und den übergeordneten architektonischen Zielen. Auch die Größe der Einheit, um die es geht, spielt natürlich eine wichtige Rolle, die Bauten sind nicht frei "skalierbar", sondern versuchen, für die zukünftige Gemeinschaft der Wohnenden ein passendes Gleichgewicht zwischen Rückzugsmöglichkeiten und Treffpunkten, zwischen Innen- und Außenraum herzustellen.
(…)

Wie konnte es gelingen, unter teils überaus widrigen Bedingungen ein solche Vielzahl vorderhand vielleicht etwas exzentrisch und unnötig luxuriös wirkender, aber auf den zweiten Blick so beeindruckend qualitätvoller Gebäude zu realisieren? Hierzu gibt es in den vielen verfügbaren Gesprächen mit Inken und Hinrich Baller zahlreiche Äußerungen und Hinweise, die ich mir erlaube, folgendermaßen zusammenzufassen: Harte Arbeit, Intelligenz und Kompetenz, ein starker Realitätssinn, und die Bereitschaft zur Kommunikation auf allen Ebenen. Die Realisierung ungewöhnlicher Ideen und maximaler Freiräume für die Wohnenden kann nur gelingen, wenn dabei ökonomisch höchst rational und zugleich kreativ umgegangen wird. Man bekommt selten etwas geschenkt. Wenn man an einer Stelle eine großzügige Lösung realisieren möchte, muss man an anderer Stelle intelligent minimieren. (…)

Etwas vereinfacht zusammengefasst: Die scheinbare Luftigkeit und Poesie der Architektur baut auf einem hart erarbeiteten Fundament technischer, ökonomischer und kommunikativer Rationalität sowie ständiger Lernbereitschaft auf. (…)

Im Jahr 1989 beenden Inken und Hinrich Baller ihre Zusammenarbeit. Inken Baller führt ein eigenes Büro weiter, nimmt aber zusätzlich auch eine ordentliche Professur für Entwerfen und Baukonstruktion an der damaligen Gesamthochschule Kassel an. Damit beginnt ihre Zeit als Hochschullehrerin, und das bisher Gesagte legt nahe, dass sie auch auf diesem Feld Außergewöhnliches leisten würde. Nach sieben Jahren in Kassel wechselt sie an die fünf Jahre vorher gegründete BTU Cottbus auf eine Professur für Entwerfen und Bauen im Bestand, wo sie bis zur Emeritierung 2007 (und darüber hinaus) überaus erfolgreich tätig ist. (…)

Die Neugründung einer Universität in einer kleinen Großstadt am östlichsten Rand der neu vereinigten Republik, zudem mitten im Braunkohletagebau, war ein Abenteuer, dort anzuheuern aber auch eine extrem wichtige Pionieraufgabe, die viele Chancen barg. (…)

Die Professur für Bauen im Bestand, die Inken Baller übernahm, war deutschlandweit eine der ersten mit diesem Schwerpunkt, und im Zusammenspiel mit den beiden genannten Studiengängen sowie mit der stark aufgestellten Bauforschung und Denkmalpflege hatte die junge Fakultät ein starkes Alleinstellungsmerkmal in diesem Feld. (…)

Inken Baller wirkte neben dieser richtungsweisenden Arbeit an der Fakultät auch sechs Jahre als Vizepräsidentin für Lehre und Studium. In dieser Zeit war u.a. die Umsetzung der sogenannten Bologna-Reform zu gestalten, es gab also einiges an konfliktträchtigen Themen zu bewältigen. Ich habe Inken Baller in diesen sechs gemeinsamen Jahren als eine qua Persönlichkeit und Kompetenz unglaublich stabilisierende Kraft erlebt, die im Zentrum der extrem produktiven Fakultätsentwicklung stand, ohne dass man das ständig bemerkt hätte. "Natürliche Autorität" wird oft als Floskel missbraucht, in diesem Falle ist es ein Faktum.
(…)

{Wir freuen uns}, dass wir Inken Baller nun durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde an die KIT-Fakultät für Architektur binden dürfen. Wir sind sehr glücklich über die spontane Annahme dieser Ehrung und freuen uns jetzt auf den Festvortrag mit dem Titel "Stadtlandschaften – Potenziale von Konstruktion und Raum".“

Prof. Riklef Rambow
Professur für Architekturkommunikation